Blaulicht 178 - Kienast,
[ Pobierz całość w formacie PDF ]
-1-
Blaulicht
178
Wolfgang Kienast
Spiessrutenlauf
Kriminalerzählung
Verlag Das Neue Berlin
-2-
1 Auflage
© Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1977
Lizenz-Nr.: 409-160/103/77 · LSV 7004
Umschlagentwurf: Brigitte Ullmann
Printed in the German Democratic Republic
Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
622 306 6
00025
-3-
Er hatte ein Mädchengesicht und einen kleinen, zarten Körper.
Wäre nicht seine Nase gewesen, hätte man ihn tatsächlich für ein
Mädchen halten können. Aber das Nasenbein war zweimal
gebrochen, und das deutete an, was wirklich in diesem
Bürschchen steckte. Er war hart, sehr hart – und verbittert.
Als ich ihn das erste Mal traf, hockte er allein an dem einzigen
freien Tisch in einer Kneipe, wie ein Aussätziger. Überall
drängten sich die Leute, doch ihn schienen sie zu meiden. Seine
Einsamkeit stach so grell hervor wie ein Zirkusplakat an einer
unscheinbaren Wand. Wahrscheinlich hätte auch ich ihn allein
gelassen, wäre auch nur ein einziger anderer Stuhl in diesem
Raum frei gewesen. Als ich ihn fragte, ob ich mich zu ihm setzen
dürfe, knurrte er etwas. Es klang wie »Dämliche Frage« oder
ähnlich, und seine Geste bot mir die drei leeren Stühle an. Dann
setzte er verdrossen einen doppelten Boonekamp an und
schluckte ihn hinunter. Er seufzte kurz und spülte mit Bier nach.
Er saß da, beide Ellenbogen aufgestützt, das Kinn zwischen den
Fäusten, und betrachtete trübe die fleckige Tischdecke. Er
kümmerte sich nicht weiter um mich.
Ich war hergekommen, weil ich Hunger hatte. Das Lokal hieß
»Vier Linden« und sah von außen ziemlich seriös aus. Bei der
schmuddligen Kellnerin bestellte ich ein Bier und fragte nach der
Speisekarte. Sie sagte, daß fleischlose Woche wäre und es außer
Eierspeisen nur noch Broiler gäbe. Oder Strammer Max mit
Schinken.
Ich zögerte zwischen Strammem Max und Bauernfrühstück,
als der Junge sagte: »Strammer Max ist Mist. Der Schinken ist
fett und zäh!«
»Danke«, sagte ich und bestellte ein Bauernfrühstück. Die
Kellnerin sah ihn böse an.
»Bauernfrühstück ist auch Mist«, fuhr er fort, »alles, was es
hier gibt, schwimmt in Fett, außer den Broilern. Die sind noch
zäher als der Schinken. Aber das Bauernfrühstück ist noch der
beste Mist von all dem Zeug hier.«
»Du machst mir ja Hoffnung«, sagte ich. Er schob die
Unterlippe vor und bekam einen Schmollmund. Auf einmal
-
4
-
begannen seine Augen zu lächeln, sie strahlten geradezu. »Hier
wirste noch dein blaues Wunder erleben, kannste glauben.« Er
trank sein Bier aus und schnipste nach der Kellnerin. Als sie
seine Bestellung entgegennahm – es war wieder großer
Boonekamp und Bier –, fuhr sie ihn an, er solle sich nicht
betrinken.
»Das ist meine Tante«, sagte der Junge, und seine Augen
strahlten noch stärker, »die Frau von dem Bruder meines Vaters.
Der hat sich aber bald abgesetzt von ihr, und seitdem überlegt
sie, ob sie sich scheiden lassen soll. So ist sie. Sie überlegt den
ganzen Abend, ob sie mir zu trinken bringen soll oder nicht,
währenddessen bringt sie fortwährend was. Ich kann dir sagen.«
Urplötzlich verschwand das Strahlen aus seinen Augen. »So sind
die alle hier. Als wenn sie tot sind, lassen sie sich alles gefallen.«
Er stand auf und ging zur Toilette. Ich dachte, daß er
eigentlich durch die Tür mit dem Kreis gehen sollte. Von hinten
sah man seine Nase nicht, aber sein weiches, schulterlanges
Mädchenhaar. Er ging wie eine Katze.
Dann kam er zurück, und in der Tür wurde er von einem
älteren Mann weggestoßen. »Mach Platz, du Gammler!« sagte der
Mann eine Spur zu laut und zu schrill. »Euch sollte man…«
Der Junge hatte seine Lippen wieder geschürzt, und seine
Augen lächelten erneut. Diesmal war es ein böses Lächeln –
keine Spur von Strahlen. Er drehte sich zu dem Mann um, sagte
aber nichts.
Dieses Lächeln genügte, den vollends in Rage zu bringen. »In
ein Arbeitslager gehört ihr alle, in ein Arbeitslager!«
Ich wartete, daß jemand den Mann zur Ordnung rufen würde.
Die Gespräche waren verstummt, alle schauten auf die beiden.
Es war ein zustimmendes Schweigen für den Älteren. Der Wirt
kam hinter der Theke hervor. »Nicht stänkern, du«, sagte er zu
dem Jungen.
»Er hat nicht gestänkert«, sagte ich.
»Woher wollen Sie das wissen?« erwiderte der Wirt.
»Na, hören Sie.«
-
5
-
[ Pobierz całość w formacie PDF ]