Blaulicht 186 - Johann,
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Blaulicht
186
Gerhard Johann
Die Urne aus Prag
Kriminalerzählung
Verlag Das Neue Berlin
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1 Auflage
© Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1978
Lizenz-Nr.: 409-160/103/78 · LSV 7004
Umschlagentwurf: Jens Prockat
Printed in the German Democratic Republic
Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
622 346 1
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Die Hauptperson dieser sonderbaren Begebenheit war er
nicht, der Küster von St. Marien in K. Und doch hätte alles
einen anderen Gang genommen, wäre er nicht gewesen.
Sein Haar war schneeweiß, aber nicht schütter, sondern voll
wie das eines jungen Mannes. Die Augen zwei Fenster, aus
denen er herausschaute, in die aber auch jeder hineinschauen
durfte, die Nase schmal, ein wenig gekrümmt; dann vor allem
der Mund, um ihn spielte immer ein Lächeln, keins von der
überheblichen Art, das verletzt oder provoziert, das Erfahrung
oder gar Weisheit allein auf Grund von Jahren vortäuschen will,
auch kein Grinsen, nein, nicht mehr und nicht weniger als ein
kleiner Gruß, eine offenherzige Einladung an den anderen, wer
es auch sei, einen Augenblick von seinen Geschäften und
Beschäftigungen zu lassen, um ein wenig von der Güte dieses
Menschen mitzunehmen oder auch ein wenig von eigenen
Beschwernissen abzuladen.
Keiner wußte so recht, was er früher, in seiner Jugend, in
seinen besten Jahren, gemacht hatte. Einige munkelten, er sei zur
See gefahren, andere wollten wissen, daß er sein Leben zum
großen Teil im Ausland, auch in Übersee, verbracht habe.
Doch das waren wohl nur Gerüchte, fest stand allerdings, daß
er mehrere Sprachen beherrschte. Kamen Ausländer in die Stadt,
was zumal im Sommer oft geschah, so erwies er sich nicht nur
als ein redegewandter, sondern auch sprachkundiger
Fremdenführer, der den Blick seiner Gäste auf die
architektonischen Schönheiten lenkte und dabei auffällig
bescheiden das kleine Stück Geschichte der Stadt K. aus dem
riesigen Kuchen der Weltgeschichte herausschnitt und
gewissermaßen als Kostprobe anbot. Es war nicht seine Art, die
Fremden mit aufgeblasenen Belanglosigkeiten aus der Historie
zu langweilen, mit den Lieblingshunden des Grafen Cuno oder
der Mätresse von dessen Stiefsohn Dagobert, die sich, knapp
vierzigjährig von besagtem Dagobert gegen eine halb so alte
ausgewechselt, am Neujahrsmorgen des Jahres 1657 im
Kirchturm von St. Marien erhängt hatte. Er berichtete vom
Gewerbe, dem die einfachen Leute hier nachgegangen waren,
und zeigte dazu dann und wann kleine Proben ihrer
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Kunstfertigkeiten. Auch vergaß er nicht, die Not zu erwähnen,
die zeitlebens an ihren roh gezimmerten Tischen als ungeladener
Gast gehockt hat, um ihnen die Freude an dem seltenen Braten
oder der Flasche sauren Rotwein zum Namenstag zu vergällen.
Sein genaues Alter war schwer zu schätzen, weil man in diesem
Lebensbereich nach Jahren und nicht mehr nach Jahrzehnten zu
zählen pflegt. Es stand außer Frage, daß er den Schritt in das
Rentnerdasein schon vor längerer Zeit getan hatte. Doch auch
danach war ihm noch manches Angebot gemacht worden, wobei
seine allgemein bekannten Sprachkenntnisse und sein bei aller
Bescheidenheit sicheres Auftreten eine Rolle gespielt haben
mögen.
Einem Verwaltungsdirektor der HO, der ihn gern in einer
verantwortlichen Stellung des Interhotels gesehen hätte, erklärte
er seine Ablehnung so: »In den armen Regionen mancher Länder
Europas gibt es Leute, die nur eine Kuh und kaum eigenes Land
haben. Sie nehmen ihre Kuh in der Frühe, nachdem sie
gemolken worden ist, und bringen sie zu einem Weg oder einer
Straße am Dorfausgang. Dort schlagen sie im Straßengraben
einen Pflock in den Boden. Die Kuh hat einen Strick um den
Hals, der am Pflock befestigt wird. So kann sie in einem Umkreis
von zwei bis drei Metern das Gras im Straßengraben abweiden.
Die Begrenzung ist natürlich so gewählt, daß sie weder das
anliegende Feld erreichen noch auf die Straße gelangen kann.
Die Menge Gras, die sie dort vorfindet, ist ausreichend. Am
Mittag wird sie wieder zurückgeholt oder erst am Abend, falls sie
trocken steht. Doch was tut die Kuh? Kaum ist sie an ihrem
Weideplatz allein, so spannt sie den Strick, der durch den Pflock
gehalten wird, und reckt dazu noch den Hals vor. Warum? Sie
verachtet die Gräser, die sozusagen vor ihrer Nase wachsen, sie
will unbedingt an die anderen, die außerhalb ihres Aktionsradius
stehen, und besonders ist ihre Gier auf das junge Getreide oder
die kaum handgroßen Rübenblätter des angrenzenden Feldes
gerichtet. Was aber innerhalb ihres Kreises wächst, trampelt sie
nieder. Am Abend muht sie hungrig und klagend, denn von dem
wenigen, das sie so mühsam erreichen konnte, ist sie nicht satt
geworden. – Ja, die Kuh ist eben ein Rindvieh. Ich halte mich an
das, was vor mir steht.« Eigenartig war, daß ihm niemand solche
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