Blaulicht 192 - Johann,
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Blaulicht
192
Gerhard Johann
Ermordung einer
Großmutter
Kriminalerzählung
Verlag Das Neue Berlin
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1 Auflage
© Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1979
Lizenz-Nr.: 409-160/101/79 · LSV 7004
Umschlagentwurf: Günter Lück
Printed in the German Democratic Republic
Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
622 353 3
00045
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Der Junge kommt mir bekannt vor. Er scheint öfter hier
herumzulungern. Doch »Herumlungern« – das paßt nicht zu
seinem Äußeren und seiner Haltung. Er geht gerade, beinahe
könnte man sagen »gemessenen Schrittes«. Seine Stirn ist hoch,
das kurze Haar liegt, von Wasser oder Pomade gesteift, glatt am
Kopf, die Nase ist lang und schmal. Nun könnte man meinen, er
habe einen zusammengekniffenen Mund – passend zu der
schmalen Nase –, doch das stimmt nicht. Er hat volle Lippen,
fast wie die einer jungen Frau, doch sie geben seinem Gesicht
nicht jenen Zug freundlicher Harmlosigkeit, den man gern darin
fände, sondern eher eine Prise Arroganz. Erstaunlich ist, daß er
einen maßgeschneiderten Anzug trägt. Der Stoff, grau, mit
feinen hellen Streifen darin, könnte zu einem älteren
Musikdirektor passen, der einen sommerlichen Kuraufenthalt
verbringt. Das Hemd des Jungen hat die Farbe frischer Orangen,
die Krawatte ist saatgrün. Man traut seinen Augen nicht, doch es
stimmt, er trägt einen Binder, dieser etwa Dreizehnjährige, und
das an einem schönen Sommertag.
Wer wollte angesichts einer solchen Erscheinung also von
»Herumlungern« reden? Es ist fast überflüssig, einen Blick auf
seine Schuhe zu werfen, sie sind ebenso makellos wie sein
sonstiger Aufzug, schwarz, Boxkalf, ohne ein Stäubchen. Wie
bringt er das zustande auf diesen staubigen Wegen.
Ist es verwunderlich, daß ich mich frage, wie dieser Junge
gerade hierher kommt? Der See bildet an dieser Stelle eine etwa
dreißig Meter breite Bucht und ist ziemlich tief, so daß sich
kleinere Kinder hier kaum aufhalten. Das Ufer ist rundum von
Erlen und Weidenbüschen bestanden, nur eine schmale Stelle ist
ausgetreten. Ein niedriger Steg ragt ins Wasser, die
Achtzehnjährigen springen von ihm, als sei er ein richtiger Turm.
Einige Mädchen sitzen ständig auf dem Sand des
unbewachsenen Uferstücks und schauen den Springern teils
interessiert, teils gelangweilt zu.
Ich bin mitunter an dieser Bucht, der Weg um den See ist
reizvoll, und obwohl ich kein begeisterter Spaziergänger bin,
laufe ich ihn dann und wann ab, aus dem Gefühl heraus, damit
etwas für meine Gesundheit zu tun.
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Unter den anderen am See wäre er mir nie aufgefallen, aber
dort, im Hintergrund zwischen den Kiefern, und noch dazu in
diesem Aufzug. Er schaut zu mir oder zur Badestelle, ich weiß es
nicht genau, habe aber den Eindruck, daß er mich beobachtet.
Soll ich ihn ansprechen? Wie denn? Es ist doch nett hier?
Schönes Wetter, das Wasser ist gewiß warm und der Wald kühl –
und was es sonst an Banalitäten noch geben könnte?
Ich schweige lieber, wenn mir nichts Gescheiteres einfällt.
Die Badestelle ist heute nicht übermäßig besetzt. Ich sehe auf
die Uhr, es ist zehn Minuten nach vier. Die Schule müßte längst
vorbei sein. Wer weiß, was die noch vorhaben, die sonst hier
liegen und springen und schwimmen. Es ist unwichtig, sie
werden später kommen, denn die Tage sind lang zu dieser Zeit
unmittelbar vor den Ferien, und sie sind freundlich und warm.
Der Junge steht unbeweglich zwischen den Kiefern und schaut
herüber. Nein, ich werde ihn nicht ansprechen, schließlich sind
wir nicht zwei Menschen, die sich plötzlich in der Arktis
begegnen, allein und weitab aller menschlichen Siedlungen. Ich
werde einfach weitergehen und ihn übersehen. Ein wenig schiele
ich doch zu ihm hinüber, um zu prüfen, wie er darauf reagiert.
Es ist ihm nichts anzumerken.
Ich bemühe mich, die lautlose Begegnung zu vergessen, und
folge dem Weg, der sich jetzt vom See entfernt und tiefer in den
Wald eindringt. Die Kiefern rechts und links mögen zwanzig
oder dreißig Jahre stehen, nicht länger. Da sind Schritte hinter
mir. Ich wende mich um, denn Schritte im Rücken sind immer
etwas Unheimliches, und sehe, daß der Junge mir folgt.
Er rennt nicht, er geht, bewegt aber die Beine in einem kurzen
Rhythmus und mit unbeschreiblicher Präzision. So laufen
Roboter in utopischen Filmen. Ich sehe keinen Anlaß, ihm
entkommen zu wollen, und behalte meinen gemächlichen Schritt
bei. Was mag er vorhaben? Folgt er mir nur so?
Nun ist er neben mir, bremst sein Tempo ein wenig, der Weg
ist breit genug für uns beide, er überholt mich nicht, sondern
bleibt an meiner Seite, auf gleicher Höhe. Er scheint etwas Mühe
zu haben, seine Schrittgeschwindigkeit an meine anzugleichen,
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